Kriegsenkel? Kriegsenkel!
Wie Ihr wisst befinde ich mich zurzeit in Ausbildung zur systemischen Beraterin. Zur Weiterbildung gehört auch sich selbst und seine Familiengeschichte zu reflektieren. In dieser Reflexion wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich der „Kriegsenkelgeneration“ angehöre. Inzwischen habe ich für mich so manche Erklärungsansätze, was meine „Suche nach meinem Platz“, mein „immer wieder Neues beginnen“ und „Auf-der-Bremse-stehen“ betrifft.
Heute schaute ich mir für eine Recherche zum Thema „Gewalt & Machtmissbrauch in der Kita“ den Kita-Talk auf YouTube „Auch Worte können weh tun“ von Anja Cantzler mit Anke Elisabeth Ballmann an. Anke Elisabeth Ballmann erwähnt darin, dass sie, wie auch Anja Cantzler, zur Kriegsenkelgeneration gehört. Ich wurde sofort hellhörig. Denn den Zusammenhang zwischen seelischer Gewalt und „woher kenne ich dies“, also die biografischen Effekte von Gewalterfahrungen, hatte ich bisher nicht mit dem Thema „Kriegsenkel“ in Verbindung gebracht.
Transgenerationale Weitergabe
Durch den Hinweis wurde mir der Zusammenhang bewusster. Denn es gibt Gewalterfahrungen, auch psychische Gewalterfahrungen, die ich selbst nicht erlebt habe, die jedoch an mich weitergegeben wurden. Diesen eigenen Schmerz gebe ich, wenn ich mich nicht reflektiere, weiter. Diesen eigenen Schmerz in der Arbeit mit den Kindern wahrzunehmen und zu reflektieren unterbricht die Weitergabe an die Kinder. Vielleicht sind manche verletzenden Sätze für mich selbst auch so normal, weil ich sie selbst so oft gehört habe, dass ich sie fast automatisch weitergebe. Vielleicht leiten mich auch meine Glaubenssätze, die ich aus meiner Familie mitbekommen habe, die ich ungefiltert an die Kinder weitergebe. Deshalb ist die biografische Selbstreflexion so wichtig. Sich der eigenen Muster, Glaubenssätze, Gewalterfahrungen bewusst zu werden und daran zu arbeiten.
Teamkultur der Achtsamkeit
Dies bedingt jedoch auch eine Teamkultur der Achtsamkeit im Miteinander. Eine Fehlerkultur in der Kita zu leben, die es ermöglicht, adultistisches Verhalten und Grenzverletzungen anzusprechen, miteinander zu reflektieren und miteinander Vereinbarungen zu treffen, wie wir hier in der Kita miteinander und mit den Kindern leben möchten.
Ein Glaubenssatz aus der Kindheit leitete viele Jahre mein Handeln – ein Beispiel
Ein Glaubenssatz der mich eine Zeitlang begleitete: „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen.“ Dieser Satz hatte, wenn man sich bewusst macht, dass es während und nach dem Krieg nicht viel zu essen gab und man keine Auswahl hatte, was es zu essen gibt, durchaus seine Berechtigung. Noch vor 20 Jahren, als ich noch als Erzieherin arbeitete, rutschte mir öfter raus, dass die Kinder wenigstens probieren sollten und schon lag der „Probierhappen“ auf dem Teller der Kinder. Anstatt den Kindern selbst die Wahl zu lassen.
Erst mit der Zeit erkannte ich, dass ich selbst ja auch Speisen nicht mag. Ich muss sie auch nicht immer wieder auf meinen Teller liegen haben zum Probieren. Ich muss auch nichts so-und-so-oft essen, um immer wieder festzustellen, dass ich es nicht mag. Manche Lebensmittel mag ich nur in einer bestimmten Konsistenz oder in bestimmten Konstellationen. Warum also sollte ich etwas von Kindern verlangen, was ich mir selbst von anderen verbiete bzw. wenn ich selbst schon nicht alle Speisen zu mir nehmen mag?
Ich kann Kinder einladen, ob sie etwas probieren möchten. Immer wieder. Wenn sie jedoch „Nein“ sagen, heißt das „Nein“. Punkt.
Selbstbestimmung – ein Kinderrecht
Es ist ein Recht der Kinder selbst zu bestimmen, was sie essen, wie viel sie essen und ob sie essen. Die Auswahl dessen, was gekocht wird, liegt in der Verantwortung der Erwachsenen. Jedoch können die Kinder hier in unterschiedlichster Weise beteiligt werden.
Ein kleiner Ausflug in meine Reflexion von einem meiner Glaubenssätze und der Veränderung meiner Sichtweise. Doch wie können wir in den Kitas dafür sorgen, dass Kinder zu ihren Rechten kommen, dass sie wertschätzend behandelt werden, dass wir in ihrem besten Interesse handeln und sie individuell und ihrem Alter entsprechend in ihrer Entwicklung begleiten? Eine mögliche Herangehensweise, die auch gleichzeitig einen Teil des Kinderschutzkonzepts darstellt, ist es einen Verhaltenskodex im Team zu erarbeiten.
Einen Verhaltenskodex erarbeiten
Zum Schutz und zum Wohl der Kinder sollte jede Kita einen Verhaltenskodex erarbeiten beziehungsweise erarbeitet haben.
Was ist ein Verhaltenskodex?
In einem Verhaltenskodex legen die pädagogischen Fachkräfte miteinander fest, wie sie in der Kita miteinander und mit den Kindern umgehen. Welche Verhaltensweisen erlaubt sind, welche Verhaltensweisen grenzwertig sind und welche Verhaltensweisen strafrechtliche Folgen haben.
Im Internet finden sich viele Verhaltenskodexe, die oft allgemeine Verhaltensweisen enthalten und diese in Ampelfarben einteilen. Oft werden diese unreflektiert in die Kinderschutzkonzepte übernommen. Ein Verhaltenskodex sollte jedoch die Individualität der Kita und pädagogischen Fachkräfte widerspiegeln.
Wie einen Verhaltenskodex erarbeiten?
Vorgefertigte Muster können als Vorlage zur individuellen Auseinandersetzung dienen. Doch eigentlich geht es darum, sich im Team zu überlegen, was heißt für uns wertschätzendes Verhalten, wie gehen wir mit herausfordernden Situationen um, wie vermeiden wir grenzverletzendes und übergriffiges Verhalten, wie wollen wir hier in der Kita mit den Kindern leben? In einen individuellen Verhaltenskodex fließen diese Fragen und ihre Reflexionen ein. Daraus ergeben sich Verhaltensregeln, die als Vereinbarung im Verhaltenskodex festgeschrieben sind. Diese sind für alle Mitarbeiter*innen verbindlich. So können zum Beispiel Verhaltensweisen für verschiedene Bereiche im Alltag festgelegt werden.
Zum Beispiel für die Schlafenszeit in der Kita. Hier könnte zum Beispiel festgelegt werden, wie die Kinder beim Einschlafen mit ihren ganz individuellen Einschlafritualen begleitet werden (ein Lied singen, die Spieluhr aufziehen, Hand halten,…). Es kann auch festgelegt und beschrieben werden, worauf beim Wickeln geachtet wird oder beim Planschen im Sommer im Garten, zum Beispiel, dass darauf geachtet wird, dass die Kinder nicht während der Bring- und Abholzeiten ihre Badesachen anziehen. (Schutz der Intimsphäre)
Im Verhaltenskodex kann ebenfalls geregelt werden, wie sie es mit dem Körperkontakt halten. Hier könnte zum Beispiel beschrieben sein, dass Kinder, die müde sind, Trost brauchen oder einfach mal auf den Schoß wollen, dies dürfen, wenn der Körperkontakt vom Kind ausgeht und es sein Bedürfnis und Wunsch ist. Die pädagogische Fachkraft jedoch kein Kind bedrängt oder zu Körperkontakt zwingt (zum Beispiel als „Strafe“ – doch das wäre jetzt ein anderes Thema).
So kann Bereich für Bereich im Tagesablauf angeschaut werden und gemeinsam im Team überlegt werden, wie haben wir uns in diesen Situationen bisher Verhalten, wie zeigen wir Kindern wertschätzendes und respektvolles Verhalten und welche Verhaltensweisen empfinden wir als grenzverletzend und übergriffig.
Diese Reflexionen berühren in allen Bereichen die praktische Umsetzung der Kinderrechte im Alltag.